TEXTE

ES LEBE DIE NAIVITÄT! 

Trotz ihrer ungeahnten Aktualität und trotz der Tatsache, dass ganze Zeitschrif- ten, Museen, Kunstmessen und private Sammlungen sich ihrer Sache widmen, wird die Naive Kunst immer noch als eine typische Nebenerscheinung der Mo- derne betrachtet. In allgemeinen kunsthistorischen Abhandlungen erhält sie den Stellenwert einer folkloristischen Marginalie, der einen charmanten und frischen, aber auch laienhaften, unseriösen und volkstümlich-kitschigen Charakter anhaf- tet. Es ist eben die Kunst der Zirkusathleten (Camille Bombois), der Putzfrauen (Séraphine Louis) oder der Zollbeamten (Henri Rousseau). Ähnlich der Kunst aus Ozeanien, Asien oder Afrika, wird sie vor allem an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert für relevant gehalten, als sie – unfreiwillig – die Entwicklungen der europäischen Avantgarden bereicherte. Die angeblich egalitäre und Mul- ti-Kulti-Welle der Postmoderne (die sich übrigens nicht aus dem Zustand eines frommen Wunsches herausbilden konnte) hat wenig an dieser Tatsache verän- dert: Immer noch bleibt das Verhältnis der sog. Hochkunst zur sog. Naiven Kunst kolonialistisch geprägt. Es ist das Verhältnis zwischen einer vermeintlich höher entwickelten Kulturform zu einer vermeintlich rückständigen. 

Kann man bei solchen Prämissen behaupten, dass die Kunst von Elis Secundo zur langen Tradition der Naiven Kunst gehört? Wirkt dieser Begriff, aufgrund dessen Atavismus, nicht wie eine Herabwürdigung, eine Verspottung oder gar eine Verfemung? Es mag sein. Aber wir möchten uns für eine Rehabilitierung der Naivität einsetzen. Und für eine Kunst, die, abseits der neuesten Theorien und modischen Paradigmen, abseits der Attitüden der Kunstszene und des dort herrschenden guten Tons, ihre Berechtigung hat. Elis Secundo schafft seit ei- nigen Jahren Werke, die sich nicht um Tendenzen und Trends kümmern. Es ist eine Kunst, die zwar nicht systemrelevant ist, aber individuell, autark und zeitlos wirkt. 

Besonders starke Naturerfahrungen gehören zu den wichtigsten Prägungen von Secundo. Und diese Erfahrungen haben in Gegenden stattgefunden, die wir Europäer für gewöhnlich als exotisch betrachten. In längeren Aufenthalten im Amazonas-Urwald oder bei wiederholten Reisen nach Hawaii und zu den Inseln Nordpolynesiens hat die in Brasilien geborene Künstlerin mehr als ein Mal die Gelegenheit gehabt, unglaublich schöne und wilde Erdteile zu erleben. Das warme Meer, die stechende Sonne, eine üppige, extrem fruchtbare Vegetation und die Nähe zu freien Tieren haben einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen und Secundo zu einem „anderen Mensch“ gemacht – wie sie selbst sagt. Aus diesen Erkundungen des irdischen Paradieses hat sie eine innige Beziehung zu 

den Elementen gewonnen, ein tiefes, intuitives und daher unverfälschtes Ver- ständnis für natürliche Abläufe sowie die Fähigkeit, immer wieder zu staunen und sich an der Schönheit dieser Welt zu freuen. Es sind nicht unbedingt die soft skills, die man üblicherweise im sophisticated Milieu des Kunstbetriebs begeg- net – aber es sind wesentliche und universelle Einsichten, die, obwohl sie vom entfremdeten, modernen Leben disqualifiziert werden, zu den grundsätzlichen Erfahrungen eines Menschen gehören. 

Das „entfremdete, moderne Leben“ – nicht umsonst machen wir hier Gebrauch einer Rhetorik, die an der historischen Kritik der Moderne erinnern dürfte. Die Kunst von Elis Secundo, in ihrer rauen Naivität und direkten Anschaulichkeit, erinnert tatsäch- lich an manche Expressionisten, die, wie alle anderen Erben der Reformbewegungen aus dem späten 19. Jahrhundert, den rationalistisch und technologisch orientierten Entwicklungen ihrer Zeit skeptisch bis ablehnend gegenüber standen. Die Sehnsucht nach dem verlorenen Eden und nach einer radikalen Alternative zum modernen Leben fernab aller zivilisatorischen Laster brachte Künstler wie Kirchner, Schmidt-Rottluff und Mühl (oder vor ihnen das große Vorbild Gauguin) auf die Spur von naturnahen und „authentischen“ Völkern und Kulturen. Dass dieser wilde Einfluss aus der Übersee das Gesicht der Avantgardekunst in Europa grundlegend verändert hat, muss ja hier nicht bewiesen werden. 

Genau in dieser Übereinstimmung zur eskapischen Einstellung der Expressionisten sehen wir eine interessante Verbindung zur Arbeit von Elis Secundo. Auf den ersten Blick und auf einer rein formalen Ebene sind die Werke der jungen Künstlerin nah ver- wandt mit den Experimenten von Kirchner und Co. Vor allem die in den letzten Jahren entstandenen Farbholzschnitte, jene grobe und archaisch wirkende Technik, die zum bevorzugten Vervielfältigungsmedium der deutschen Expressionisten wurde, schafft eine mehr als evidente Verquickung zur Generation der deutschen Avantgarde. Hier stellt man eine ähnliche Schroffheit als in Kirchners Blättern fest; Secundos Papier- arbeiten besitzen dieselbe Echtheit und Unvermitteltheit, die Europäer in der sog. primitiven Kunst gesucht haben. Aber über diese oberflächlichen Vergleiche hinaus erkennt man auch eine verblüffend tiefgehende Parallelität zur „Lebensphilosophie“ der Expressionisten, wie wir sie eben schnell skizziert haben. Die gleiche Sehnsucht nach exotischen Kulturen und fremden Horizonten erkennt man in Secundos Drucken. Ihre Themen erstrecken sich von idyllischen Szenen mit Figur(en) in der Natur bis zu abstrakt-ornamentalen Blättern, die z.T. an die Scherenschnitte von Matisse erinnern. Referenzen an die polynesische Mythologie, in der Form von Tikis oder Götterdarstel- lungen, tauchen ebenso auf und erweitern das ikonografische Feld. 

Bei ihren plastischen Arbeiten verschieben sich die Akzente merklich. Die Oktopus-Se- rie gehört zu den jüngsten Arbeiten von Secundo. Es handelt sich um mannshohe, ke- gelförmige und farbige Auswüchse, die sockelfrei auf den Boden gestellt werden. Wie der Titel schon verrät, verweisen die organischen Formen auf die Tentakel von Kraken, die Secundo während ihrer Tauchgänge in südlichen Gewässern öfters beobachten konnte. Fasziniert von den weichen und tänzerischen Bewegungen der eleganten Tie- re, hat sie zehn Plastiken erschaffen, die ihren ganzen Charme sowohl im White Cube als auch im Freien entfalten. Lasziv schwingen sie in der Luft und animieren den Raum auf eigentümliche Weise. Ihre Kurven evozieren zwar die Extremitäten von Tintenfi- schen, können aber auch als Algen oder sogar als Flammen interpretiert werden. Wie für die Druckgrafik-Serien fußen diese abstrakten und fröhlich wirkenden Formen auf unmittelbaren Meereserfahrungen der Künstlerin. Sie sind also das Resultat von Süd- see-Erlebnissen und kondensieren darüber hinaus ein Lebensgefühl, das als pure und unvoreingenommene Lebensfreude gelten kann. 

Wären aber diese Arbeiten nichts anderes als übergroße, dekontextua- lisierte Nachbildungen, gäbe es kaum Anlass, darüber zu sprechen und zu schreiben. Der Reiz liegt hier an der doppelten Verfremdung. Denn sowohl die Materialität der Plastiken – ein aufwendig appliziertes Kunst- leder – als auch ihre Farbigkeit – knallrot, anthrazit oder schwarz mit ro- ten Punkten – schaffen eine erstaunliche Distanzierung zum eigentlichen Objekt. 

Nach dem künstlerischen Prozess der Verwandlung bleibt freilich nicht mehr viel von einem Oktopus übrig. Secundo hat die anatomische Realität des Tieres auf das Wesentliche reduziert und die Textur der lang- gestreckten Arme so transformiert, dass das Interpretationsfeld sich zu anderen Möglichkeiten öffnet. Die Tentakel werden plötzlich zu Frauen- beinen, die von schrillen oder modischen Strümpfen verhüllt werden. 

Das Ledrige der Oberfläche schafft eine Nähe zur Bekleidung und zum Men- schenkörper und lässt den animalischen Bezug in weitere Ferne rücken. Auf einmal wirken die tänzelnden Kegel sehr weiblich und strahlen eine große Sinnlichkeit aus. 

Es ist diese unbekümmerte Sinnlichkeit, diese spielerische Entspannung, gepaart mit einer kindischen und intuitiven Sensibilität für Fauna und Flo- ra, die die Kunst von Elis Secundo ausmacht. Eine Kunst, die beweist, dass es überhaupt keinen Anlass gibt, der Begriff der „Naiven Kunst“ mit einer pejorativen Konnotation zu beladen oder als Ergebnis einer lange vergangenen Entwicklung zu sehen. 

Professor  Dr.Emmanuel Mir